Medizinische Verantwortung und rechtliche Folgen verspäteter Sectio caesarea
Die meisten Geburten verlaufen ruhig, sicher und ohne Komplikationen. Doch manchmal ändert sich der Verlauf abrupt. Wenn die Herztöne des Kindes plötzlich abfallen oder die Geburt nicht weiter voranschreitet, ist das medizinische Team gefordert, schnell und entschlossen zu handeln. Wird in einer solchen Situation der Kaiserschnitt (Sectio caesarea) zu spät eingeleitet, kann das sowohl medizinisch als auch rechtlich schwerwiegende Folgen haben.
Ein verspäteter Kaiserschnitt zählt zu den häufigsten Streitpunkten in der geburtshilflichen Haftung. Auch in unserer Kanzlei gehören Fälle, in denen es um u.a. zu späte Kaiserschnitte geht, zu den häufigsten. Denn die Entscheidung für oder gegen eine Sectio ist nicht nur medizinisch äußerst wichtig, sie erfordert auch klare Kommunikation, rechtzeitige Aufklärung und eine funktionierende Notfallorganisation. Wenn der Kaiserschnitt bei einer bereits bestehenden akuten Gefährdung von Mutter oder Kind nicht schnell genug erfolgt, stellen sich folgende juristischen Kernfragen:
- Wurde die medizinische Indikation zur Sectio rechtzeitig erkannt?
- Wurde die Geburt kontinuierlich überwacht und neu bewertet?
- Wurde die Schwangere umfassend und verständlich aufgeklärt?
- War die Klinik organisatorisch in der Lage, rechtzeitig einzugreifen?
Wenn eine dieser Fragen mit „nein“ beantwortet werden muss, stehen die Chancen gut, dass ein Behandlungsfehler vorliegt, möglicherweise sogar ein grober Behandlungsfehler, der erhebliche Rechtsfolgen haben kann.
Medizinische Grundlagen: Was ist eine Sectio caesarea?
Ein Kaiserschnitt – medizinisch „Sectio caesarea“ genannt – ist ein operativer Eingriff, bei dem das Kind durch einen Schnitt in Bauchdecke und Gebärmutter zur Welt gebracht wird. Etwa jede dritte Geburt in Deutschland erfolgt mittlerweile per Sectio, Tendenz steigend. Doch nicht jeder Kaiserschnitt ist ein Notfall, und nicht jeder Notfall-Kaiserschnitt wird auch rechtzeitig durchgeführt.
Medizinisch wird zwischen drei Grundformen unterschieden:
- Die primäre Sectio wird schon vor Beginn der Geburt geplant, wenn sich bereits im Verlauf der Schwangerschaft zeigt, dass es bei einer vaginalen Geburt zu Problemen kommen kann (z. B. bei Beckenendlage oder Placenta praevia) oder die Mutter dies wünscht.
- Die sekundäre Sectio wird während der Geburt entschieden, z. B. bei Geburtsstillstand. Mit einer sekundären Sectio soll vermieden werden, dass eine akute Gefahr für Gesundheit oder Leben von Mutter und/oder Kind ensteht. Bei Eile aber keiner akuten Lebensgefahr wird die sekundäre Sectio als eilige Sectio durchgeführt.
- Eine Notsectio wird bei akuter Lebensgefahr für Mutter oder Kind durchgeführt.
Die Unterscheidung ist nicht nur medizinisch, sondern auch rechtlich bedeutsam. Denn je nach Indikation unterscheiden sich die Anforderungen an Aufklärung, Reaktionszeit und Dokumentation erheblich.
Absolute Indikation, Notsectio und relative Indikation: Wann muss ein Kaiserschnitt erfolgen?
Relative Indikation: Entscheidung mit Spielraum
Bei einer relativen Indikation ist eine vaginale Geburt grundsätzlich möglich, aber risikobehaftet. Hier entscheidet man gemeinsam mit der Schwangeren nach einer sorgfältigen Risikoabwägung und einer ausführlichen Aufklärung, welche Geburtsform gewählt werden soll.
In folgenden Fällen liegt häufig eine relative Indikation für eine Sectio vor:
- Beckenendlage
- Zustand nach früherer Sectio ohne akute Komplikation
- Mehrlingsschwangerschaft
- Verdacht auf Makrosomie (überdurchschnittlich großes Kind)
Bei einer relativen Indikation muss eine vorausschauende Risikoaufklärung erfolgen. Die Schwangere muss genau verstehen, welche Risiken mit der vaginalen Geburt verbunden sein können und dass unter der Geburt eine zwingende Notwendigkeit zum Kaiserschnitt entstehen kann.
Absolute Indikation: wenn Warten keine Option mehr ist
Eine absolute Indikation liegt vor, wenn eine vaginale Entbindung aus ärztlicher Sicht nicht mehr vertretbar ist. Dann ist der Kaiserschnitt zwingend notwendig, aber in der Regel noch planbar, also nicht schnellstmöglich umzusetzen.
Typische Beispiele:
- Placenta praevia totalis (Plazenta liegt vor dem Muttermund)
- Zustand nach früherer Sectio mit drohender Uterusruptur
- Schweres HELLP-Syndrom
- Geburtsstillstand mit kindlichem Missverhältnis
Wird eine solche Indikation zu spät erkannt oder zu spät umgesetzt, liegt regelmäßig ein Behandlungsfehler vor. Die Verantwortung liegt dabei nicht nur bei den behandelnden Ärzten, sondern auch bei der Klinikorganisation.

Notsectio: wenn jede Minute zählt
Eine Notsectio ist der medizinische Ernstfall. Es besteht akute Lebensgefahr für das Kind oder die Mutter und es gibt keinen medizinischen Spielraum mehr. Standard ist, dass bei einer Notsectio die Geburt innerhalb von maximal 20 Minuten erfolgen sollte. Dabei wird zwischen zwei Phasen unterschieden:
- Decision-to-Incision-Zeit: Dies bezeichnet die Zeitspanne vom Entschluss zum Kaiserschnitt bis zum ersten Hautschnitt. Diese sollte in Notfällen nicht mehr als 15 bis 20 Minuten betragen, bei hochakuten Verläufen deutlich darunter.
- Decision-to-Delivery-Zeit (= E-E-Zeit): Dies ist der Zeitraum vom ärztlichen Beschluss bis zur tatsächlichen Geburt des Kindes. Auch hier gilt eine Maximalzeit von 20 Minuten, wobei in Fällen anhaltender fetaler Bradykardie selbst das zu lang sein kann.
Diese Zeitspannen sind nicht nur medizinisch begründet, sondern auch haftungsrechtlich relevant, insbesondere bei Fragen der organisatorischen Vorbereitung und Reaktionsfähigkeit eines Krankenhauses.
Typische Notfälle, in denen eine Notsectio erfolgen sollte, sind:
- Akute fetale Hypoxie (Sauerstoffmangel, z. B. bei pathologischem CTG)
- Nabelschnurvorfall
- Massive Plazentalösung
- Eklampsie (krampfanfallartige Schwangerschaftskomplikation)
Wird in dieser Situation nicht unverzüglich gehandelt, können schwerste Hirnschäden beim Kind, aber auch lebensbedrohliche Zustände bei der Mutter entstehen, beispielsweise bei einer Uterusruptur oder bei unkontrollierter Blutung.
Beispiel aus der Rechtsprechung
Eine Schwangere kam nachts wegen verminderter Kindsbewegungen ins Krankenhaus. Das CTG war von Anfang an auffällig, trotzdem wurde nicht dauerhaft überwacht und erst Stunden später ein Kaiserschnitt eingeleitet. Das Kind erlitt durch den Sauerstoffmangel schwere Hirnschäden, eine Entwicklungsverzögerung und Epilepsie.
Das Gericht wertete das Vorgehen als groben Behandlungsfehler, weil weder ein Dauer-CTG noch eine rechtzeitige Notsectio durchgeführt wurde.
Die Klinik und die behandelnden Ärzte wurden zu einem hohen Schmerzensgeld und zum Ersatz aller Folgeschäden verurteilt.
(OLG Hamm, Urteil vom 04.04.2017 – 26 U 88/16)
Aufklärung, Eskalation und „schonungslose Kommunikation“
Pflicht zur Neubewertung und Aufklärung
Eine Geburt verläuft nie statisch. Wehen, CTG-Befunde, Herzfrequenz des Kindes o.ä. können sich binnen Minuten verändern und auf eine Gefahr für Mutter und Kind hinweisen. Genau deshalb ist eine kontinuierliche Überwachung unter der Geburt entscheidend. Wenn sich aus einer normalen Geburt plötzlich ein Hochrisikofall entwickelt, muss auch die medizinische Bewertung angepasst werden. Und mit ihr auch die Aufklärung der Mutter. Dies ist rechtlich in § 630e Abs. 2 BGB eindeutig geregelt.
Unterbleibt diese erneute Aufklärung liegt ein eigener Aufklärungsfehler vor. Und dieser kann unabhängig vom Behandlungsfehler zu einer Haftung führen. Der Grund für eine ausbleibende Aufklärung ist dabei unerheblich. Auch Personal- oder Zeitmangel entbinden das Behandlungsteam nicht von dieser Pflicht.
Eskalationspflicht: Warum „schonungslos ehrlich“ richtig ist
Die Geburt ist ein kritischer Moment und gerade deshalb ist eine klare, deutliche und notfalls auch konfrontative Kommunikation unerlässlich. Die Mutter ist die Sachwalterin der Belange ihres ungeborenen Kindes. Daher muss sichergestellt werden, dass sie die Situation versteht, wenn die Gesundheit oder gar das Leben ihres Kindes auf dem Spiel steht. Rechtlich gilt:
- Bei relativer Indikation muss eine vollständige Risikoaufklärung, auch über Alternativen, erfolgen.
- Bei Notfällen genügt eine kurze Notfallaufklärung; bei akuter Lebensgefahr ist eine Einwilligung entbehrlich (§ 630e Abs. 3 BGB).
Wenn die Schwangere trotz klarer medizinischer Empfehlung zögert oder die medizinisch gebotene Sectio ablehnt, ist der Arzt verpflichtet:
- deutlich und unmissverständlich auf die drohenden Gefahren hinzuweisen,
- die Situation „schonungslos bis zum Eklat“ zu kommunizieren, also so klar, dass der Ernst der Lage unmissverständlich verstanden wird,
- die Dokumentation der Aufklärung und eventuellen Ablehnung vorzunehmen.
Eine Aussage wie „Wenn wir jetzt nicht umgehend einen Kaiserschnitt durchführen, besteht die akute Gefahr, dass Ihr Kind bleibende Schäden erleidet oder stirbt“ mag hart wirken, ist aber rechtlich geboten und medizinisch notwendig.
Wenn das System versagt: organisatorische Verantwortung des Krankenhauses
Nicht immer ist es der behandelnde Arzt, der einen Fehler macht. In vielen Fällen liegt der eigentliche Grund für eine verspätete Sectio in der Organisation der Klinik selbst.
Ein Krankenhaus mit Geburtshilfe muss funktionsfähige Alarmstrukturen („Sectio-Alarm“) etabliert haben und zudem sicherstellen, dass rund um die Uhr ein OP-Team mit folgender Besetzung bereitsteht:
- eine Gynäkologin bzw. ein Gynäkologe
- ein Anästhesistin bzw. ein Anästhesist
- ein kinderärztlicher Bereitschaftsdienst
- OP-Fachpersonal
Fehlt diese Struktur – z. B. nachts oder am Wochenende – und kann deshalb eine Notsectio nicht rechtzeitig erfolgen, handelt es sich um Organisationsverschulden des Krankenhausträgers.
Auch die Verlegungspflicht ist hier relevant: Ist absehbar, dass in einem Notfall keine adäquate Versorgung möglich sein wird (z. B. bei Frühgeburt, Zustand nach Sectio, Mehrlingsschwangerschaft), muss die Schwangere vorzeitig in eine höher ausgestattete Klinik verlegt werden. Unterbleibt die Verlegung, kann dies als Organisationsfehler und Verstoß gegen die Sorgfaltspflicht nach § 630a Abs. 2 BGB gewertet werden.
Ihre Rechte bei Geburtsschäden durch verspätete Sectio
Wenn eine verspätete Sectio zu einem Gesundheitsschaden führt, können Ansprüche auf Schadensersatz und Schmerzensgeld bestehen. Betroffene Familien haben im Einzelnen Anspruch auf:
- Schmerzensgeld für Kind und/oder die Mutter
- Schadensersatz für Therapiekosten, Pflegebedarf, Hilfsmittel
- Erwerbsausfallschäden, wenn ein Elternteil durch die Pflege nicht mehr arbeiten kann, wobei hier enge Voraussetzungen bestehen
- Pflegemehrbedarf bei häuslicher Pflege
Bei groben Behandlungsfehlern kommt es zur Beweislastumkehr. In dem Fall muss nicht die Patientin beweisen, dass der Arzt einen Fehler gemacht hat, sondern die Ärzteseite muss beweisen, dass kein Fehler vorlag oder der Schaden auch ohne diesen eingetreten wäre. Eine Beweislastumkehr ist ein entscheidender Vorteil für Betroffene im Prozess.
Was Betroffene tun können und wie wir ihnen helfen können
Für betroffene Familien ist es oft schwer nachzuvollziehen, was während der Geburt tatsächlich passiert ist und ob die Reaktion des Teams rechtzeitig und angemessen war. Wenn Sie den Eindruck haben, dass Ihr Kaiserschnitt zu spät durchgeführt wurde, sollten Sie Folgendes tun:
- Notieren Sie Ihre Erinnerungen und Wahrnehmungen rund um die Geburt möglichst früh. Auch persönliche Eindrücke – wann wer anwesend war, welche Informationen Sie erhielten, wie lange gewartet wurde – können später wichtig werden.
- Suchen Sie rechtliche Unterstützung, idealerweise durch eine Kanzlei, die auf Geburtsschäden spezialisiert ist und mit medizinischen Fragestellungen vertraut ist.
BROCKS Medizinrecht begleitet seit vielen Jahren Eltern, deren Kinder oder auch sie selbst durch verspätete Kaiserschnitte gesundheitliche Schäden erlitten haben. Wir werten medizinische Unterlagen sorgfältig aus, ziehen ärztliche Gutachter hinzu und prüfen, ob ein Behandlungs- oder Organisationsfehler vorliegt.
Wir begleiten Sie mit juristischer Präzision und dem Bewusstsein dafür, dass es um mehr geht als um einen Rechtsfall. Wenn Fehler passiert sind, setzen wir uns dafür ein, dass Sie und Ihr Kind die Unterstützung und Entschädigung erhalten, die Ihnen zusteht.
Kontaktieren Sie uns, wenn Sie den Verdacht haben, dass der Kaiserschnitt zu spät erfolgte oder organisatorische Versäumnisse vorlagen. Wir prüfen Ihren Fall sorgfältig und besprechen mit Ihnen die nächsten Schritte.