Die Geburt eines Kindes ist ein prägendes und freudiges Ereignis. Doch trotz aller positiven Erfahrungen kann sie auch mit medizinischen Komplikationen einhergehen. Eine der schwerwiegenden sind sogenannte höhergradige Dammrisse. Diese Verletzungen sind nicht nur medizinisch relevant, sondern auch haftungsrechtlich von großer Bedeutung. Wenn ein höhergradiger Dammriss als solcher nicht erkannt oder nicht korrekt versorgt wird, kann dies für die betroffene Frau erhebliche Folgen haben: körperlich, psychisch und rechtlich.
Was sind höhergradige Dammrisse?
Dammrisse treten bei vaginalen Geburten häufig auf. Während kleinere Risse der Grade I und II meist komplikationslos verheilen, betreffen höhergradige Dammrisse (Grad III und IV) den äußeren und inneren Schließmuskel und im schlimmsten Fall auch die Rektumschleimhaut. Höhergradige Dammrisse werden wie folgt klassifiziert:
- Grad IIIa: weniger als 50 % des äußeren Schließmuskels betroffen
- Grad IIIb: mehr als 50 % betroffen
- Grad IIIc: zusätzlicher Einriss des inneren Schließmuskels
- Grad IV: Riss reicht bis in die Rektumschleimhaut
Diese Verletzungen beeinträchtigen das Kontinenzsystem, also die Fähigkeit, die Blasen- und Darmfunktion kontrollieren zu können. Unversorgt oder falsch behandelt können sie zu dauerhafter Stuhlinkontinenz, chronischen Schmerzen und zu psychischen Belastungen führen. Deshalb gilt: Exakte Diagnostik, eine fachgerechte operative Versorgung und eine sorgfältige Nachsorge sind zwingend erforderlich.
Risikofaktoren: Wann droht ein höhergradiger Dammriss?
Höhergradige Dammrisse entstehen selten zufällig. Sie sind in der Regel die Folge bestimmter geburtshilflicher Situationen, die das Risiko deutlich erhöhen:
- vaginal-operative Entbindungen (Zange, Vakuum)
- Makrosomie (Geburtsgewicht > 4.000 g)
- Schulterdystokie (eine geburtshilfliche Komplikation, bei der nach der Geburt des kindlichen Kopfes eine oder beide Schultern im Becken / an der Symphyse der Mutter hängenbleiben und die Geburt dadurch verzögert oder erschwert wird) oder ungünstige Kindslage
- hoher Stand des kindlichen Kopfes bei Einleitung einer vaginalen Geburt
- erstgebärende Frauen mit engem Becken
- unzureichender Dammschutz.
Diese Risikofaktoren sind medizinisch bekannt und in Leitlinien dokumentiert. Kommt es dennoch zu einer schwerwiegenden Geburtsverletzung, stellt sich im Haftungsfall regelmäßig die Frage, ob eine geplante Sectio indiziert gewesen wäre oder ob organisatorische Versäumnisse, etwa durch unerfahrenes Personal, zur Verletzung bzw. zur unzureichenden Behandlung des Dammrisses geführt haben.
Diagnosefehler: Der Anfang vieler Probleme
In der anwaltlichen Praxis zeigt sich häufig, dass der Behandlungsfehler nicht immer nur bei der Dammrissprophylaxe oder erst bei der Operation, sondern bereits bei der falschen oder fehlenden bzw. unzureichenden Diagnose beginnt. Diagnosefehler in diesem Kontext können etwa sein:
- Ein Grad IIIc-Riss wird als Grad II und somit falsch dokumentiert.
- Eine rektale Untersuchung unterbleibt oder wird bei Verdacht eines höhergradigen Dammrisses von einer unerfahrenen Person durchgeführt.
- Die Verletzung bleibt unentdeckt, mit schwerwiegenden Folgen.
Wird die notwendige rektale Untersuchung nicht dokumentiert, greift § 630h Abs. 3 BGB, d.h. die Maßnahme gilt als nicht durchgeführt. Das Gericht geht bei fehlender Dokumentation davon aus, dass die Untersuchung unterlassen wurde, mit entsprechenden haftungsrechtlichen Folgen.
Behandlungsfehler bei der Versorgung eines Dammrisses
Die operative Versorgung höhergradiger Dammrisse erfordert nicht nur chirurgisches Geschick, sondern auch Erfahrung und Sorgfalt. Fehler wie
- eine nicht schichtgerechte Naht,
- ungeeignetes Nahtmaterial,
- fehlende Antibiotikaprophylaxe,
- unterlassene Stuhlregulation
- oder eine fehlende Nachkontrolle
sind dabei keine Einzelfälle, sie zählen zu den häufigsten Ursachen für medizinische Komplikationen. Wird die Verletzung nicht korrekt versorgt, drohen Infektionen, Wundheilungsstörungen oder ein Wiederaufreißen der Naht. Auch fehlende Supervision durch erfahrene Fachärzte kann haftungsrechtlich relevant sein. Findet keine fachgerechte Nachsorge statt oder wird sie nicht dokumentiert, liegt regelmäßig ein Behandlungsfehler vor.

Aufklärungspflicht: Wann muss über einen Kaiserschnitt gesprochen werden?
Bei bestimmten Risikokonstellationen wie etwa Makrosomie (überdurchschnittliches Geburtsgewicht), hoher Geradstand des kindlichen Kopfes oder Beckenenge besteht ein erhöhtes Risiko für schwerwiegende Geburtsverletzungen, insbesondere für höhergradige Dammrisse.
In solchen Fällen ist die behandelnde Ärztin oder der Arzt verpflichtet, die Patientin im Rahmen der geburtshilflichen Aufklärung gemäß § 630e BGB umfassend über diese Risiken und vor allem Alternativen zu informieren. Dazu gehört auch der Hinweis auf die Möglichkeit einer Sectio (geplanter Kaiserschnitt) als Behandlungsalternative, wenn dieser das Verletzungsrisiko signifikant mindern kann.
Wird eine solche Risiko- bzw. Alternativaufklärung unterlassen, liegt ein Aufklärungsfehler vor, der zu Schadensersatzansprüchen führt.
Dokumentationsfehler: Entscheidender Faktor im Haftungsprozess
In der Geburtshilfe ist eine lückenlose und nachvollziehbare Dokumentation gesetzliche Pflicht. Sie bildet das zentrale Beweismittel im Arzthaftungsprozess und kann im Streitfall über die rechtliche Bewertung einer Behandlung entscheiden, denn, was nicht dokumentiert ist, gilt rechtlich als nicht erfolgt.
Besonders schwer wiegt dies bei geburtshilflichen Eingriffen und Komplikationen wie höhergradigen Dammrissen. Wird beispielsweise eine rektale Untersuchung nach der Geburt nicht dokumentiert, obwohl sie zur Abklärung einer Schließmuskelschädigung medizinisch geboten gewesen wäre, greift § 630h Abs. 3 BGB: Es wird vermutet, dass diese Untersuchung nicht durchgeführt wurde, selbst wenn das medizinische Personal Gegenteiliges behauptet.
Präzedenzfall: Sehr hohes Schmerzensgeld nach unzureichend dokumentiertem Dammriss
Wie gravierend die Folgen einer unzureichenden Dokumentation sein können, zeigt folgender Fall: Nach einer Zangengeburt im Jahr 2016 erlitt eine Frau schwere Beckenbodenschäden, unter anderem durch einen nicht versorgten höhergradigen Dammriss. Die Patientin leidet seitdem dauerhaft an Stuhl- und Harninkontinenz.
In der Patientenakte war die zwingend notwendige Blasenentleerung vor der Zangengeburt zunächst nicht vermerkt. Der verantwortliche Arzt fügte den Eintrag erst Jahre später nach. Während das Landgericht Bielefeld die Klage zunächst abwies, stellte das Oberlandesgericht Hamm im Berufungsverfahren klar: Nach § 630h Abs. 3 BGB gilt eine medizinische Maßnahme, die nicht dokumentiert ist, rechtlich als nicht durchgeführt. Da sich der Arzt nicht entlasten konnte, musste die Klinik haften.
Im Februar 2023 einigten sich die Parteien auf einen gerichtlichen Vergleich über einen sechsstelligen Betrag.
Auch unklare oder unvollständige OP-Dokumentationen können rechtlich folgenreich sein. Wird etwa nicht eindeutig vermerkt, welcher Schweregrad des Dammrisses vorlag oder welche Schicht der Muskulatur wie versorgt wurde, liegt die Beweislast bei der Klinik. Im Zweifel wird zugunsten der Patientin angenommen, dass eine fachgerechte Versorgung unterblieben ist.
Solche Dokumentationsmängel führen zu erheblichen Beweiserleichterungen für Betroffene, selbst dann, wenn kein grober Behandlungsfehler nachweisbar ist. Allein die Lücken in der medizinischen Akte können ausreichen, um eine Haftung im Ergebnis zu begründen. Für Kliniken bedeutet das, dass Dokumentation mehr ist als ein Protokoll. Sie schützt Patientinnen und Behandler gleichermaßen und ist juristisch verpflichtend.
Geburtsverletzungen sind oft kein unabwendbares Schicksal: Wir prüfen Ihre Ansprüche
Nicht jeder Dammriss lässt sich vermeiden. Doch wenn bleibende Schäden auf mangelhafte Diagnostik, unzureichende Versorgung oder organisatorische Versäumnisse zurückzuführen sind, wird aus dem medizinischen Risiko ein haftungsrechtlicher Fall.
BROCKS Medizinrecht ist auf Arzthaftungsrecht und Geburtsschäden spezialisiert. Wir prüfen Ihren Fall mit juristischer Expertise, medizinischem Verständnis und dem nötigen Einfühlungsvermögen.
Wenn Sie betroffen sind oder den Verdacht haben, dass Ihre Geburtsverletzung fehlerhaft behandelt wurde oder ganz vermeidbar war, nehmen Sie Kontakt mit uns auf. Wir setzen uns für Ihre Ansprüche auf Schadensersatz, Schmerzensgeld und die gerichtliche oder außergerichtliche Feststellung ärztlicher Fehler ein.
Häufig gestellte Fragen zu höhergradigen Dammrissen und Arzthaftung
Ein höhergradiger Dammriss (Grad III oder IV) betrifft nicht nur Haut und Muskulatur, sondern den Schließmuskel und im schlimmsten Fall die Darmschleimhaut. Damit unterscheiden sich diese Verletzungen deutlich von leichteren Dammrissen (Grad I und II), die meist komplikationslos verheilen.
Unzureichend behandelte höhergradige Dammrisse können zu Stuhlinkontinenz, Schmerzen, Wundheilungsstörungen und psychischen Belastungen führen. Häufig sind sie mit erheblichen Einschränkungen im Alltag und in der Partnerschaft verbunden. Teilweise muss sogar ein künstlicher Darmausgang gelegt werden.
Ein Behandlungsfehler liegt vor, wenn medizinische Standards nicht eingehalten werden. Bei höhergradigen Dammrissen kann das etwa dann der Fall sein, wenn der Riss nicht oder falsch klassifiziert wird, eine rektale Untersuchung unterbleibt, die Nahtversorgung unsachgemäß erfolgt oder die notwendige Nachsorge und die Supervision durch erfahrene Fachärzte fehlen.
Wenn bereits in der Schwangerschaft oder während der Geburt erkennbar ist, dass das Risiko für schwere Verletzungen hoch ist (z. B. bei großem Kind), muss die Patientin auch über einen möglichen Kaiserschnitt aufgeklärt werden. Unterbleibt diese Aufklärung, ist die Einwilligung in die vaginale Geburt unwirksam – selbst wenn die Geburt medizinisch korrekt verlaufen ist.
In der Geburtshilfe gilt: Was nicht dokumentiert ist und hätte dokumentiert werden müssen, gilt rechtlich als nicht erfolgt. Fehlt z. B. der Eintrag zur rektalen Untersuchung oder zur Klassifikation des Risses, wird davon ausgegangen, dass die Maßnahme nicht durchgeführt wurde. Dies verschafft der Patientin im Prozess erhebliche Vorteile.
Nein. Nicht jeder Schaden ist vermeidbar oder haftungsrechtlich relevant. Wenn aber bleibende Schäden vorliegen und Zweifel an der Diagnostik, Versorgung oder Aufklärung bestehen, sollte der Fall rechtlich geprüft werden.
Je nach Fallkonstellation können Betroffene Anspruch auf Schmerzensgeld, Schadensersatz (z. B. für Verdienstausfall, Behandlungskosten, Haushaltshilfe) oder einen Anspruch auf Feststellung künftiger Schäden haben.
Wenn Sie betroffen sind, sollten Sie den Ablauf in einem Gedächtnisprotokoll festhalten und sich möglichst früh von einer Kanzlei beraten lassen, die nicht nur Arzthaftungsrecht anbietet, sondern auf das Geburtsschadensrecht spezialisiert ist.