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Wer haftet bei einem Fehler unter der Geburt?

Uwe Brocks

Rechtsanwalt

Inhalts­verzeichnis

Wer haftet bei einem Fehler unter der Geburt?

Im Rahmen der Schwangerschaft und der Geburt werden die Schwangere und ihr Kind regelmäßig von unterschiedlichen Stellen und unterschiedlichem Fachpersonal betreut. Während die routinemäßige Schwangerschaftsbetreuung regelmäßig durch niedergelassene Gynäkolog:innen erfolgt, findet die Geburt häufig in einem Geburtshaus oder einer Klinik statt, wo die Betreuung durch Hebammen und durch Geburtshelfer:innen erfolgt.

Die Frage nach der Haftung für Fehler während der Geburt ist entsprechend komplex und kann und muss je nach den spezifischen Umständen unterschiedlich beantwortet werden. In diesem Beitrag werden die gesetzlichen Grundlagen des Arzthaftungsrechts sowie mögliche Konstellationen im Geburtsschadensrecht dargestellt, bevor näher auf die zwei diesbezüglich bedeutendsten Konstellationen – die Haftung des ärztlichen Personals sowie die Haftung der Hebammen – eingegangen wird.

Gesetzliche Grundlagen – Vertragliche und deliktische Haftung

Bevor man sich der Frage widmen kann, wer für einen Schaden haftet, muss man sich fragen, „woraus“ jemand haften kann. Dabei gibt es im deutschen Zivilrecht verschiedene Haftungskonzepte, die nebeneinander bestehen können.

Für das Arzthaftungs- und das Geburtsschadensrecht sind insbesondere die Haftung aus Vertrag (§§ 280 ff. des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB)) sowie die Haftung aus Delikt (§§ 823 ff. BGB) relevant.

Die vertragliche Haftung basiert auf einem bestehenden Vertrag zwischen den beteiligten Parteien, im Arzthaftungsrecht also auf einem Behandlungsvertrag zwischen beispielsweise Ärzt:in / Krankenhaus und Patient:in. Wenn eine Vertragspartei ihre Pflichten aus diesem Vertrag nicht erfüllt, kann sie für den entstandenen Schaden haftbar gemacht werden. Die Haftung entsteht also durch die Verletzung des Vertrags. Die vertragliche Haftung setzt voraus, dass eine Vertragsbeziehung besteht und dass die geschuldete Leistung nicht erbracht wurde oder fehlerhaft war.

Daneben steht die deliktische Haftung, auch außervertragliche Haftung genannt. Sie basiert nicht auf einem bestehenden Vertrag, sondern auf allgemeinen Haftungsregeln im Zivilrecht. Sie ergibt sich aus einer rechtswidrigen Handlung (Delikt), bei der eine Person die geschützten Rechte oder Interessen einer anderen Person, z.B. ihre Gesundheit, verletzt. Dabei kann es sich um Fahrlässigkeit, vorsätzliches Handeln oder auch Unterlassungen handeln. Die deliktische Haftung umfasst auch Verletzungen von allgemeinen Verkehrspflichten, wie die Pflicht zur Sorgfalt oder die Verletzung von Schutzgesetzen.

Die beiden Haftungstypen stehen nebeneinander und können sich gegen verschiedene Parteien richten, insbesondere wenn Vertragspartner und Schädiger nicht personenidentisch sind.

Mögliche Beteiligte bei einem Geburtsschaden

Im Geburtsschadensrecht geht es im Regelfall um die Haftung für ein Fehlverhalten des medizinischen Personals, das zu Gesundheitsschäden bei Mutter und / oder Kind geführt hat.  Auch hier stehen die vertragliche und die deliktische Haftung nebeneinander:

Zum ergibt sich die vertragliche Haftung aus dem geschlossenen Behandlungsvertrag. Der Behandlungsvertrag verpflichtet die Behandlerseite zu einer Behandlung nach den zum Behandlungszeitpunkt anerkannten medizinischen Standards. Weitere Pflichten ergeben sich aus den gesetzlichen Regelungen des Behandlungsvertrag in den §§ 630 a ff. BGB. Wird gegen eine der Pflichten verstoßen und folgt daraus ein Schaden, haftet der Vertragspartner. Bei einer Behandlung in einem Krankenhaus oder einem Geburtshaus wird der Vertrag in der Regel mit dem Träger des jeweiligen Hauses geschlossen – nicht mit einzelnen Ärzt:innen und Hebammen. Entsprechend haftet auch der Krankenhausträger als Vertragspartner aus dem Behandlungsvertrag für die fehlerhafte Behandlung.

Neben der vertraglichen Haftung steht die deliktische Haftung. Ärzt:innen, Hebammen und sonstiges Krankenhauspersonal können über die §§ 823 ff. BGB persönlich haftbar gemacht werden. Es greift also nicht die vertragliche, sondern die sogenannte deliktische Haftung. Ein Haftungsgrund liegt dann vor, wenn die behandelnde Person während der Geburt den anerkannten medizinischen Standard fahrlässig oder vorsätzlich nicht eingehalten hat. Dies kann beispielsweise im Rahmen der Diagnosestellung, bei der Überwachung der Schwangerschaft oder bei der Durchführung von medizinischen Eingriffen während der Geburt geschehen.

In der Regel haben Ärzt:innen, Hebammen und Krankenhäuser eine Haftpflichtversicherung, die für diejenigen Schäden aufkommt, die infolge von Behandlungsfehlern während der Geburt entstehen. Die Versicherung übernimmt in der Regel die Haftung und leistet gegebenenfalls Schadensersatz. Die angestellten Ärzt:innen und Hebammen sind in aller Regel über das Krankenhaus mitversichert.

Wer haftet – Ärzt:in oder Hebamme?

Hebammen – nicht Ärzte oder Ärztinnen – sind diejenigen, die den Geburtsvorgang selbstständig betreuen und überwachen. So regelt es das deutsche Hebammengesetz. Bei einer Geburt soll deshalb immer – auch von ärztlichem Personal – eine Hebamme hinzugezogen werden. Gleichzeitig verpflichtet das Gesetz die Hebammen dazu, bei Komplikationen ärztliches Personal hinzuzuziehen. Ist dies geschehen, geht die Leitung der Geburt auf den Arzt/ die Ärztin über.

Diese Zusammenarbeit von ärztlichem Personal und Hebammen führt zu der Frage, wer bei Geburtsschäden haften muss.

Generell gilt Folgendes: Arbeiten bei der Betreuung von Patient:innen verschiedene Personen zusammen, liegt die Entscheidungsgewalt bei derjenigen Person, die die höchste Qualifikation aufweist. Diese erteilt den anderen Beteiligten regelmäßig Weisungen – wer untergeordnet ist, lässt seine Entscheidungen von dem oder der Übergeordneten überprüfen. So läuft es beispielsweise im Verhältnis von Assistenzärzt:innen zu Fachärzt:innen zu Oberärzt:innen und so weiter oder auch im Verhältnis von Pflege- zu ärztlichem Personal. Der Ranghöchste trägt – sofern er denn hinzugerufen wurde – regelmäßig auch die haftungsrechtliche Verantwortung.

Grundsätzlich gilt diese Annahme auch im Verhältnis von Hebamme zu Ärzt:innen, wenn eine Schwangere von beiden zeitgleich betreut wird. Wird die Geburt aufgrund von Komplikationen oder sonstigen Besonderheiten durch eine:n Ärzt:in übernommen, geht auch die haftungsrechtliche Verantwortlichkeit auf diese:n über. Die Hebamme ist dem Arzt oder der Ärztin regelmäßig aufgrund der niedrigeren Qualifikation weisungsgebunden.

Von dieser Regel gibt es jedoch Ausnahmen. Eine Hebamme kann sich durch das Hinzurufen und der Übergabe der Geburt an ärztliches Personal nicht automatisch von ihrer haftungsrechtlichen Verantwortlichkeit befreien. Der Bundesgerichtshof (BGH) hat Ende 2022 eine wichtige Entscheidung zu dem Thema der Hebammenhaftung getroffen, die die Besonderheiten verdeutlicht.

BGH v. 6.12.2022 – VI ZR 284/19 zu den Besonderheiten der Hebammenhaftung

Der vom BGH zu entscheidende Fall:

Im Fall des BGH ging es um eine Schwangere, die für die Geburt ihres Kindes in ein Krankenhaus kam und zunächst von einer Hebamme betreut wurde. Kurz nachdem um 5.15 Uhr der Blasensprung eintrat, stellte die Hebamme ein suspektes CTG und einen Abfall der Herztöne des Kindes fest. Daraufhin verabreichte die Hebamme der Schwangeren ein wehenhemmendes Medikament und informierte um 5.48 Uhr den diensthabenden Arzt. Dieser erschien ca. 20 Minuten später. Er untersuchte die Schwangere und ordnete eine Oxytocin-Infusion an. Oxytocin löst in der Gebärmutter Muskelkontraktionen aus, ist also ein wehenförderndes Medikament. Der Arzt gab gegenüber der Hebamme an, in einer Viertelstunde wieder in den Kreißsaal zu kommen, um nach der Schwangeren zu schauen. Stattdessen legte er sich jedoch in einem Patientenzimmer schlafen und war nicht mehr erreichbar.

Die durch das Oxytocin ausgelösten Wehen führten jeweils zu einem erneuten Abfallen der Herztöne des Kindes. Die Hebamme bemerkte dies und betätigte um 6.30 Uhr den Klingelruf, um den Arzt zu informieren. Dieser Ruf kam jedoch in dem Zimmer, in dem der Arzt schlief, nicht an. Bei der nächsten Wehe, um 6.32 Uhr, war das CTG-Muster hochpathologisch. Es wies also darauf hin, dass eine akute Gefährdung für das Kind bestand. Dennoch ergriff die Hebamme keine weiteren Maßnahmen. Auch die Oxytocin-Infusion beendete sie nicht.

Erst um 7 Uhr kehrte der Arzt in den Kreißsaal zurück und erkannte die kritische Situation. Er beendete die Oxytocin-Infusion und verabreichte stattdessen ein wehenhemmendes Medikament. Zudem traf er die Entscheidung für eine Notsectio (Notkaiserschnitt), um das Kind möglichst schnell zur Welt zu bringen. Um 7.53 Uhr kam das Kind mit einem Sauerstoffmangel und einer Hypogylkämie (d.h. einer Unterzuckerung) zur Welt. Die Versorgung übernahm zunächst der geburtshelfende Arzt. Ein auf Neugeborene spezialisierter Arzt wurde erst nach 8 Uhr informiert und traf erst um 8.43 Uhr ein, da er in einem einige Kilometer entfernten Krankenhaus arbeitete.

Infolge der Sauerstoffunterversorgung und Hypoglykämie während der Geburt ist das Kind bis heute und für sein ganzes Leben schwerstbehindert.

Die Entscheidung des BGH

Dass den Behandelnden hier schwerwiegende Fehler unterlaufen waren, die den Gesundheitsschaden des Kindes verursacht haben, wurde bereits in einem früheren Prozess eindeutig festgestellt. Streitig war nun jedoch zwischen der Hebamme und dem Arzt bzw. ihren jeweiligen Versicherern, wer für die Schäden haften muss.

Die Hebamme berief sich darauf, dem Arzt nach dessen Hinzuziehung untergeordnet und weisungsgebunden gewesen zu sein. Sie habe die abfallenden Herztöne des Kindes erkannt und versucht, den Arzt zu informieren. Dieser habe die Verantwortung für die Geburt getragen und müsse haften.

Der BGH entschied, wie bereits die Vorinstanz, dass neben dem Arzt auch die Hebamme eigenständig haftet. Grundsätzlich gelte die Annahme, dass bei Anwesenheit beider der Arzt übergeordnet und damit Verantwortungsträger sei. Voraussetzung dafür sei aber gerade, dass der Arzt anwesend oder zumindest erreichbar und über die Situation unterrichtet ist. Dies war vorliegend gerade nicht der Fall. Der Arzt reagierte nicht auf das Klingeln und konnte der Hebamme folglich auch keine Handlungsanweisungen geben.

Daraus folgt laut BGH, dass die Hebamme in der Krisensituation die Verantwortung hätte übernehmen müssen, nachdem der Arzt nicht auf das Klingeln reagierte. Die notwendige Befugnis zur eigenständigen Abstellung der Oxytocin-Infusion und zur Verabreichung eines wehenhemmenden Medikaments habe sie gehabt. Zudem hätte sie beharrlicher versuchen müssen, den Arzt zu erreichen. Sie hätte beispielweise eine Nachtschwester beauftragen können, den Arzt zu finden.

Aufgrund der gravierenden Fehler, die dem Arzt unterlaufen sind, bewertete das Gericht den Verursachungsbeitrag des Arztes jedoch mit 80 Prozent, den der Hebamme nur mit 20 Prozent.

Bedeutung dieser Entscheidung

Der vom BGH getroffenen Entscheidung kommt auch über den konkreten Fall hinaus eine große Bedeutung zu. Der BGH nahm den Fall zum Anlass, um die Pflichten und Verantwortungsbereiche von Ärzt:innen und Hebammen generell voneinander abzugrenzen.

Für die Pflichten von Hebammen gilt Folgendes:

Bisher wurde davon ausgegangen, dass die Leitung der Geburt bei Hinzuziehung eines Arztes oder einer Ärztin durch die Hebamme auf das ärztliche Personal übergeht. Die Hebamme ist dann nur noch als Gehilfin tätig. Kommt es aufgrund eines Behandlungsfehlers zu einem Schaden, haftet der Arzt/ die Ärztin sowohl für sein/ ihr eigenes Verhalten als auch für das Verhalten der Hebamme, die weisungsgebunden agiert.

Diese Regel gilt auch weiterhin. Der BGH hat jedoch in seinem Urteil deutlich gemacht, dass im Einzelfall von dieser Regel abgewichen werden kann und muss. Dies gilt in zwei Konstellationen:

Erstens, wenn die Hebamme ein vollkommen regelwidriges und unverständliches Vorgehen des ärztlichen Personals erkennt und nicht wenigstens protestiert. Insoweit bestätigt der BGH eine Rechtsprechung des Oberlandesgerichts Frankfurt aus dem Jahr 2016.

Zweitens, wenn die Hebamme aufgrund eines Ausfalls oder Ausbleibens des ärztlichen Personals als einzige Kraft mit geburtshilflicher Ausbildung eine Schädigung des Kindes und/ oder der Mutter verhindern kann. Dies gilt auch dann, wenn die Verantwortung für die Geburt – wie im Fall des BGH – bereits auf das ärztliche Personal übergegangen war. Das Ergreifen der notwenigen Maßnahmen bei Abwesenheit eines Arztes/ einer Ärztin gehört zu den Tätigkeiten, die eine Hebamme eigenständig durchführt. Sie haftet dann für diese Maßnahmen, ebenso wie für das Unterlassen notwendiger Maßnahmen, selbst. Ihr Handeln ist an dem allgemein anerkannten fachlichen Standard für Hebammen zu messen.

Parallel muss sie zudem beharrlich versuchen – oder versuchen lassen – den Arzt oder die Ärztin zu erreichen.

Auch hinsichtlich der Pflichten von Ärzt:innen hat der BGH allgemeine Klarstellungen getroffen:

  • Ist ein Arzt oder eine Ärztin zu einer Geburt hinzugerufen worden, muss er oder sie sich zwar nicht die ganze Zeit bei der Gebärenden aufhalten. Es muss jedoch dauerhaft eine kurzfristige Erreichbarkeit sichergestellt sein.
  • Ordnet ein Arzt oder eine Ärztin eine Notsectio an, muss dieser auch innerhalb von 20 Minuten durchgeführt werden. Die Durchführung nach 40 Minuten – wie in dem streitigen Fall – wird der Notfallsituation nicht gerecht.
  • Die Anordnung einer Notsectio infolge eines auffälligen CTG muss in jedem Fall zwingend mit der Alarmierung eines spezialisierten Arztes oder einer spezialisierten Ärztin für Neugeborene eihergehen. Diese:r muss unmittelbar nach der Geburt des Kindes zur Verfügung stehen und die Versorgung übernehmen.

Fazit

Im Geburtsschadensrecht gibt es verschiedene Beteiligte, die möglicherweise haftbar gemacht werden können. Dabei können auch in einem Fall mehrere Personen nebeneinander haften. Häufig haftet das Krankenhaus aus dem Behandlungsvertrag für das Verhalten seiner Angestellten. Diese haften parallel persönlich aus Delikt, sofern sie ein Verschulden trifft. Im Rahmen der Geburtsbetreuung muss insbesondere zwischen der Haftung des geburtshelfenden Arztes/ der geburtshelfenden Ärztin und der Hebamme abgegrenzt werden. Hierbei haftet bei paralleler Versorgung regelmäßig das ärztliche Personal, das gegenüber der Hebamme weisungsbefugt ist. Eine allgemeingültige Regel kann jedoch nicht aufgestellt werden. Auch die Haftung von Hebammen ist grundsätzlich möglich.

Wer genau haftet, lässt sich im Rahmen der Auswertung aller geburtshilflichen Unterlagen jedoch ohne Weiteres feststellen.

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