Ob CT/MRT bei Schlaganfallverdacht, Laborwerte bei Infektionsanzeichen oder Ultraschall bei reduzierter Kindsbewegung: die medizinische Diagnostik beginnt mit der richtigen Befunderhebung. Wird eine gebotene Untersuchung nicht durchgeführt, kann das schwerwiegende Folgen haben. Für die Gesundheit der Patientin oder des Patienten, aber auch für die rechtliche Einordnung der ärztlichen Behandlung. In solchen Fällen spricht das Arzthaftungsrecht von einem Befunderhebungsfehler. Und dieser ist nicht nur ein häufiger, sondern auch haftungsrechtlich besonders relevanter Fehler.
In der ärztlichen Diagnostik kommt es nicht allein auf die richtige Interpretation von Untersuchungsergebnissen an, sondern zunächst darauf, dass überhaupt ein medizinisch gebotener Befund erhoben wird. Denn ohne Befund keine Diagnose und ohne Diagnose keine sachgerechte Therapie.
Was ist ein Befunderhebungsfehler?
Juristisch versteht man unter einem Befunderhebungsfehler das Unterlassen einer medizinisch gebotenen Diagnostik, also das Versäumen einer Untersuchung, die nach dem ärztlichen Standard zwingend erforderlich gewesen wäre. Der zentrale Unterschied zu einem Diagnosefehler liegt darin, dass beim Diagnosefehler ein Befund zwar vorliegt, dieser aber falsch gedeutet wird. Beim Befunderhebungsfehler hingegen fehlt der Befund vollständig und eine Bewertung kann daher gar nicht erst erfolgen.
Abzugrenzen ist der Befunderhebungsfehler auch vom Therapiefehler (korrekte Diagnose, aber falsche Behandlung) sowie vom Dokumentationsfehler, bei dem ein erhobener Befund nicht korrekt festgehalten wurde.
Typische Beispiele für Befunderhebungsfehler sind:
- kein EKG bei Brustschmerz
- keine CT- oder MRT-Diagnostik bei Verdacht auf Schlaganfall
- keine Ultraschalluntersuchung bei reduzierter Kindsbewegung
- keine Biopsie bei tastbarem Knoten
- keine Laborkontrolle bei Sepsisverdacht
- keine Krankenhauseinweisung zur Überwachung bei Unsicherheiten.
Weitere typische Fälle finden sich in unseren Artikeln zu den Themen „Behandlungsfehler unter Geburt“ und „Fehler in der Notaufnahme – Übersehene Symptome, ignorierte Befunde und verlorene Zeit„.
Rechtliche Einordnung: Haftung und Beweislastumkehr
Ein Befunderhebungsfehler stellt regelmäßig eine Pflichtverletzung dar, insbesondere dann, wenn er gegen den Facharztstandard verstößt. Besonders bedeutsam ist dabei die Beweislastumkehr nach § 630h Abs. 5 S. 1 BGB: Liegt ein grober Befunderhebungsfehler vor, also ein besonders eindeutiger Verstoß gegen die ärztliche Sorgfaltspflicht, muss nicht der Patient beweisen, dass die unterlassene Untersuchung ursächlich für den Gesundheitsschaden war. Dasselbe gilt unter den Voraussetzungen des § 630h Abs. 5 S. 2 BGB bei „einfachen“ Befunderhebungsfehlern.
In diesen Fällen genügt die überwiegende Wahrscheinlichkeit, dass bei richtiger Diagnostik ein sog. reaktionspflichtiger Befund hervorgetreten wäre und eine Nichtreaktion hierauf grob falsch gewesen wäre. Dann reicht es für eine Haftung aus, dass der unterlassene Befund mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu einer anderen und erfolgreicheren Behandlung geführt hätte.
Diese Gesetzeslage beruht unter anderem auf einem Grundsatzurteil des Bundesgerichtshofs (BGH, Urteil vom 8. Juli 2003, VI ZR 304/02). Danach dürfen Patienten nicht die Folgen eines groben Versäumnisses tragen, das allein im Verantwortungsbereich des behandelnden Arztes liegt.
Typische Befunderhebungsfehler aus der medizinischen Praxis
Befunderhebungsfehler können grundsätzlich in allen medizinischen Fachrichtungen vorkommen. Besonders folgenreich sind sie jedoch in Situationen, in denen eine rasche Diagnosestellung entscheidend für den weiteren Krankheitsverlauf ist, etwa bei Schlaganfall, Sepsis, Herzinfarkt, Tumorerkrankungen oder während einer Geburt. Im Folgenden finden sich typische Fallkonstellationen, wie sie in der juristischen Aufarbeitung immer wieder eine Rolle spielen.
Neurologie und Notfallmedizin
In der Notfallversorgung zählt jede Minute. Wird bei einem Patienten mit Schlaganfallverdacht keine zeitnahe bildgebende Diagnostik wie ein CT oder MRT des Kopfes durchgeführt, kann dies zu irreversiblen Schäden führen. Gleiches gilt bei Symptomen einer Meningitis: Bleibt eine ggf. dringend gebotene Lumbalpunktion aus, kann eine lebensbedrohliche Entzündung des zentralen Nervensystems unentdeckt bleiben. Beide Konstellationen sind klassische Befunderhebungsfehler mit erheblichem haftungsrechtlichem Risiko.
Innere Medizin und Allgemeinmedizin
Auch in der hausärztlichen oder internistischen Versorgung kommt es häufig zu Fehlern bei der Befunderhebung. Ein Beispiel ist das Unterlassen einer Blutkultur bei Patienten mit Fieber und Hinweisen auf eine systemische Infektion, etwa bei Verdacht auf eine Sepsis.
Ebenso relevant: Wird bei Blut im Stuhl oder ungeklärtem Gewichtsverlust keine Koloskopie durchgeführt, obwohl diese nach medizinischem Standard indiziert wäre, kann ein möglicher Darmtumor unentdeckt bleiben. Solche Versäumnisse können den Unterschied zwischen einer heilbaren und einer fortgeschrittenen Erkrankung ausmachen.
Kardiologie
Auch in der Kardiologie hat die schnelle und umfassende Befunderhebung oberste Priorität. Typisch ist das Unterlassen eines EKGs oder eines Troponin-Tests bei Patienten mit Brustschmerzen. Diese Maßnahmen gehören zu den absoluten Basisdiagnostiken bei Verdacht auf einen Herzinfarkt. Ebenso kann das Fehlen einer Echokardiographie bei unklarer Luftnot einen schwerwiegenden Befunderhebungsfehler darstellen, insbesondere wenn dadurch eine Herzinsuffizienz oder eine strukturelle Herzerkrankung nicht erkannt wird.
Onkologie und Vorsorgemedizin
In der Krebsfrüherkennung kommt der präzisen Befunderhebung eine besondere Bedeutung zu, denn oft entscheidet der Zeitpunkt der Diagnose über die Prognose. Wird etwa bei einem tastbaren Tumor keine Biopsie veranlasst, obwohl diese zur Sicherung der Diagnose medizinisch geboten wäre, handelt es sich um einen klassischen Befunderhebungsfehler. Gleiches gilt, wenn bei einem positiven Stuhltest im Rahmen der Darmkrebsvorsorge keine weiterführende Koloskopie durchgeführt wird. Auch hier kann wertvolle Zeit verloren gehen. Weitere Informationen dazu finden Sie in unserem Artikel „Fehler bei der Krebsfrüherkennung und Krebsvorsorge„.
Schwangerschaftsbetreuung und Geburtshilfe
In der Geburtshilfe können Befunderhebungsfehler schwerwiegende Folgen für Mutter und Kind haben. So ist beispielsweise bei einer Risikoschwa die kontinuierliche CTG-Überwachung (Kardiotokografie) erforderlich, um frühzeitig Hinweise auf eine kindliche Gefährdung zu erkennen. Auch bei reduzierter Kindsbewegung müssen umgehend Ultraschallkontrollen durchgeführt werden. Unterbleiben diese Maßnahmen, obwohl sie medizinisch indiziert sind, liegt ein haftungsrelevanter Fehler vor.
Weitere typische Fallkonstellationen erläutern wir auf unserer Seite „Behandlungsfehler unter der Geburt„.

Rechtsfolgen: Schadensersatz, Schmerzensgeld und Prozessstrategie
Liegt ein Befunderhebungsfehler vor, kann dies zivilrechtliche Ansprüche nach sich ziehen, insbesondere auf Schadensersatz und Schmerzensgeld. Die zentrale Frage ist dabei oft, ob eine Beweislastumkehr greift. Ist dies der Fall, verbessert sich die prozessuale Ausgangslage der Patientenseite erheblich.
In vielen Fällen hängt die rechtliche Bewertung davon ab, wie medizinische Gutachter die konkrete Situation einschätzen. Sie beurteilen, ob die unterlassene Diagnostik dem ärztlichen Standard entsprach oder ob ein Fehler vorliegt. Umso wichtiger sind eine sorgfältige Dokumentation und rechtliche Einordnung.
Was Betroffene tun können: Erste Schritte im Verdachtsfall
Ein Befunderhebungsfehler ist für medizinische Laien oft schwer erkennbar, doch es gibt konkrete Schritte, mit denen Sie erste Klarheit gewinnen können. Wenn Sie den Verdacht haben, dass in Ihrer Behandlung etwas Entscheidendes versäumt wurde, sollten Sie Folgendes tun:
- Fristen beachten: Grundsätzlich gilt eine Verjährungsfrist von drei Jahren ab Kenntnis des Fehlers. In Ausnahmefällen kann eine längere Frist gelten. Wann Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis vorliegt, ist im Einzelfall zu entscheiden. Die Rechtssprechung ist bei Patienten aber sehr großzügig.
- Rechtsrat einholen: Arzthaftungsrecht ist ein komplexes Feld. Eine spezialisierte Kanzlei wie BROCKS Medizinrecht kann frühzeitig klären, ob ein Befunderhebungsfehler vorliegt und ob sich daraus Schadensersatzansprüche ergeben.
- Chronologie erstellen: Halten Sie wichtige Daten und Symptome fest:
- Wann traten Beschwerden auf?
- Welche Untersuchungen wurden durchgeführt und welche unterlassen?
- Wer war der behandelnde Arzt bzw. die behandelnde Ärztin?
- Gibt es WhatsApp-Korrespondenz mit Freunden/Verwandten hierzu?
Befunderhebungsfehler rechtlich konsequent prüfen lassen
Nicht jede verzögerte Diagnose ist automatisch ein Behandlungsfehler. Aber wenn medizinisch gebotene Untersuchungen unterbleiben, obwohl sie nach dem ärztlichen Standard angezeigt gewesen wären, liegt in ein Befunderhebungsfehler vor. Besonders schwer wiegt dies, wenn die unterlassene Diagnostik zu einer Verschlimmerung des Gesundheitszustands führt oder Heilungschancen genommen werden.
Gerade bei groben Befunderhebungsfehlern stehen die Chancen gut, die Beweislast zu Ihren Gunsten zu verschieben, was die Geltendmachung von Schadensersatz erheblich erleichtert. Ob Notaufnahme, Vorsorgeuntersuchung oder Geburtshilfe: Der medizinische Kontext mag variieren, die rechtlichen Grundsätze bleiben dieselben.
BROCKS Medizinrecht ist spezialisiert auf komplexe Arzthaftungsfälle. Wir analysieren Ihren Fall mit medizinischer und juristischer Expertise.
Kontaktieren Sie uns für ein unverbindliches Erstgespräch. Wir nehmen Ihren Verdacht ernst und setzen uns für Ihre Rechte ein.